......
ich breite einsam beide Arme aus,
und keiner sagt mir, wo ich hingehöre.
......

aus Rilke: "Mir ist, als ob ich alles Licht verlöre"

Donnerstag, 29. Dezember 2011

Ob auch die Stunden



hören


Ob auch die Stunden uns wieder entfernen:
wir sind immer beisammen im Traum
wie unter einem aufblühenden Baum.
Wir werden die Worte, die laut sind, verlernen
und von uns reden wie Sterne von Sternen, -
alle lauten Worte verlernen:
wie unter einem aufblühenden Baum.

Aus Rainer Maria Rilke: Dir zur Feier

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Mein Leben ist wie leise See



hören


Mein Leben ist wie leise See:
Wohnt in den Uferhäusern das Weh,
wagt sich nicht aus den Höfen.
Nur manchmal zittert ein Nahn und Fliehn:
aufgestörte Wünsche ziehn
darüber wie silberne Möven.

Und dann ist alles wieder still. . .
Und weißt du was mein Leben will,
hast du es schon verstanden?
Wie eine Welle im Morgenmeer
will es, rauschend und muschelschwer,
an deiner Seele landen.

Aus Rainer Maria Rilke: Dir zur Feier (geschrieben für Lou Andreas-Salomé)

Dienstag, 27. Dezember 2011

Stiller Freund der vielen Fernen


XXIX. Sonett

hören


Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
lass dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung ?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.

Aus Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil

Sonntag, 25. Dezember 2011

Der Einsame


Der Einsame

hören


Nein: ein Turm soll sein aus meinem Herzen
und ich selbst an seinen Rand gestellt:
wo sonst nichts mehr ist, noch einmal Schmerzen
und Unsäglichkeit, noch einmal Welt.

Noch ein Ding allein im Übergroßen,
welches dunkel wird und wieder licht,
noch ein letztes, sehnendes Gesicht
in das Nie-zu-Stillende verstoßen,

noch ein äußerstes Gesicht aus Stein,
willig seinen innneren Gewichten,
das die Weiten, die es still vernichten,
zwingen, immer seliger zu sein.

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

Samstag, 24. Dezember 2011

Siehe die Blumen


XIV. Sonnet

hören


Siehe die Blumen, diese dem Irdischen treuen,
denen wir Schicksal vom Rande des Schicksals leihn, -
aber wer weiß es! Wenn sie ihr Welken bereuen,
ist es an uns, ihre Reue zu sein.

Alles will schweben. Da gehn wir umher wie Beschwerer,
legen auf alles uns selbst, vom Gewichte entzückt;
o was sind wir den Dingen für zehrende Lehrer,
weil ihnen ewige Kindheit glückt.

Nähme sie einer ins innige Schlafen und schliefe
tief mit den Dingen -: o wie käme er leicht,
anders zum anderen Tag, aus der gemeinsamen Tiefe.

Oder er bliebe vielleicht; und sie blühten und priesen
ihn, den Bekehrten, der nun den Ihrigen gleicht,
allen den stillen Geschwistern im Winde der Wiesen.

Aus Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil

Freitag, 23. Dezember 2011

Wir sind die Treibenden


XXII. Sonett

hören


Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.

Aus Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, Erster Teil (1922)

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Das Rosen-Innere


Das Rosen-Innere

hören


Wo ist zu diesem Innen
ein Außen? Auf welches Weh
legt man solches Linnen ?
Welche Himmel spiegeln sich drinnen
in dem Binnensee
dieser offenen Rosen,
dieser sorglosen, sieh:
wie sie lose im Losen
liegen, als könnte nie
eine zitternde Hand sie verschütten.
Sie können sich selber kaum
halten; viele ließen
sich überfüllen und fließen
über von Innenraum
in die Tage, die immer
voller und voller sich schließen,
bis der ganze Sommer ein Zimmer
wird, ein Zimmer in einem Traum.

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

Das Lied der Bildsäule


Das Lied der Bildsäule

hören


Wer ist es, wer mich so liebt, dass er
sein liebes Leben verstößt?
Wenn einer für mich ertrinkt im Meer,
so bin ich vom Steine zur Wiederkehr
ins Leben, ins Leben erlöst.

Ich sehne mich so nach dem rauschenden Blut;
der Stein ist so still.
Ich träume vom Leben: das Leben ist gut.
Hat keiner den Mut,
durch den ich erwachen will?

Und werd ich einmal im Leben sein,
das mir alles Goldenste giebt, -
- - - - - - - - - - - - - - - - -
so werd ich allein
weinen, weinen nach meinem Stein.
Was hilft mir mein Blut, wenn es reift wie der Wein?
Es kann aus dem Meer nicht den Einen schrein,
der mich am meisten geliebt.

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Dienstag, 20. Dezember 2011

Lied vom Meer


Lied vom Meer

hören


Capri. Piccola Marina

Uraltes Wehn vom Meer,
Meerwind bei Nacht:
du kommst zu keinem her;
wenn einer wacht,
so muss er sehn, wie er
dich übersteht:
uraltes Wehn vom Meer
welches weht
nur wie für Ur-Gestein,
lauter Raum
reißend von weit herein...

O wie fühlt dich ein
treibender Feigenbaum
oben im Mondschein.

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

Das Kind


Das Kind

hören


Unwillkürlich sehn sie seinem Spiel
lange zu; zuweilen tritt das runde
seiende Gesicht aus dem Profil,
klar und ganz wie eine volle Stunde,

welche anhebt und zu Ende schlägt.
Doch die Andern zählen nicht die Schläge,
trüb von Mühsal und vom Leben träge;
und sie merken gar nicht, wie es trägt -,

wie es alles trägt, auch dann, noch immer,
wenn es müde in dem kleinen Kleid
neben ihnen wie im Wartezimmer
sitzt und warten will auf seine Zeit.

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

Montag, 19. Dezember 2011

Die Entführung


Die Entführung

hören


Oft war sie als Kind ihren Dienerinnen
entwichen, um die Nacht und den Wind
(weil sie drinnen so anders sind)
draußen zu sehn an ihrem Beginnen;

doch keine Sturmnacht hatte gewiss;
den riesigen Park so in Stücke gerissen,
wie ihn jetzt ihr Gewissen zerriss,

da er sie nahm von der seidenen Leiter
und sie weitertrug, weiter, weiter...:

bis der Wagen alles war.

Und sie roch ihn, den schwarzen Wagen,
um den verhalten das Jagen stand
und die Gefahr.
Und sie fand ihn mit Kaltem ausgeschlagen;
und das Schwarze und Kalte war auch in ihr.
Sie kroch in ihren Mantelkragen
und befühlte ihr Haar, als bliebe es hier,
und hörte fremd einen Fremden sagen:
Ichbinbeidir.

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

Samstag, 17. Dezember 2011

Am Rande der Nacht


Am Rande der Nacht

hören


Meine Stube und diese Weite,
wach über nachtendem Land, -
ist Eines. Ich bin eine Saite,
über rauschende breite
Resonanzen gespannt.

Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll;
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter.....
Ich soll
silbern erzittern: dann wird
Alles unter mir leben,
und was in den Dingen irrt,
wird nach dem Lichte streben,
das von meinem tanzenden Tone,
um welchen der Himmel wellt,
durch schmale, schmachtende Spalten
in die alten
Abgründe ohne
Ende fällt...

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Freitag, 16. Dezember 2011

Die Liebende


Die Liebende

hören


Ja ich sehne mich nach dir. Ich gleite
mich verlierend selbst mir aus der Hand,
ohne Hoffnung, daß ich Das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite
ernst und unbeirrt und unverwandt.

... jene Zeiten: O wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet;
meine Stille war wie eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.

Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewussten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Begegnung in der Kastanien-Allee


Begegnung in der Kastanien-Allee

hören


Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit
kühl wie ein Seidenmantel umgegeben
den er noch nahm und ordnete: als eben
am andern transparenten Ende, weit,

aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben,
weiß eine einzelne Gestalt
aufleuchtete, um lange fern zu bleiben
und schließlich, von dem Lichterniedertreiben
bei jedem Schritte überwallt,

ein helles Wechseln auf sich herzutragen,
das scheu im Blond nach hinten lief.
Aber auf einmal war der Schatten tief,
und nahe Augen lagen aufgeschlagen

in einem neuen deutlichen Gesicht,
das wie in einem Bildnis verweilte
in dem Moment, da man sich wieder teilte:
erst war es immer, und dann war es nicht

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

Das Video zum Gedicht ansehen:


Dienstag, 13. Dezember 2011

Ich war in ferner Fremde Kind



hören

Eine singt:
Ich war in ferner Fremde Kind,
bis ich mich: arm und zart und blind -
aus meinem Schämen schlich;
ich warte hinter Wald und Wind
gewiss schon lang auf mich.

Ich bin allein und weit vom Haus
und sinne still: wie seh ich aus? -
- - - - - - - - - - - - - - - - -
Fragt jemand, wer ich sei?
         .. Gott, ich bin jung und
                           ich bin blond
         und habe ein Gebet gekonnt
und geh gewiss umsonst umsonnt
und fremd an mir vorbei...

Aus Rainer Maria Rilke: Die frühen Gedichte (Lieder der Mädchen)

Sonntag, 11. Dezember 2011

Ich war ein Kind und träumte viel



hören


Ich war ein Kind und träumte viel
und hatte noch nicht Mai;
da trug ein Mann sein Seitenspiel
an unserm Hof vorbei.
Da hab ich bange aufgeschaut:
"O Mutter, lass mich frei..."
Bei seiner Laute erstem Laut
brach etwas mir entzwei.

Ich wusste, eh sein Sang begann:
Es wird mein Leben sein.
Sing nicht, sing nicht, du fremder Mann:
Es wird mein Leben sein.
Du singst mein Glück und meine Müh,
mein Lied singst du und dann:
mein Schicksal singst du viel zu früh,
so dass ich, wie ich blüh und blüh, -
es nie mehr leben kann.

Er sang. Und dann verklang sein Schritt, -
er musste weiterziehn;
und sang mein Leid, das ich nie litt,
und sang mein Glück, das mir entglitt,
und nahm mich mit und nahm mich mit -
und keiner weiß wohin...

Aus Rainer Maria Rilke: Frühe Gedichte (Mädchen-Gestalten)

Samstag, 10. Dezember 2011

Zum Einschlafen zu sagen


Zum Einschlafen zu sagen

hören


Ich möchte jemanden einsingen,
bei jemandem sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus,
der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus
in dich, in die Welt, in den Wald.

Die Uhren rufen sich schlagend an,
und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann
und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß
die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los,
wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.


Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Freitag, 9. Dezember 2011

Der Letzte


Der Letzte

hören


Ich habe kein Vaterhaus,
und habe auch keines verloren;
meine Mutter hat mich in die Welt hinaus
geboren.
Da steh ich nun in der Welt und geh
in die Welt immer tiefer hinein,
und habe mein Glück und habe mein Weh
und habe jedes allein.
Und bin doch manch eines Erbe.
Mit drei Zweigen hat mein Geschlecht geblüht
auf sieben Schlößern im Wald,
und wurde seines Wappens müd
und war schon viel zu alt; -
und was sie mir ließen und was ich erwerbe
zum alten Besitze, ist heimatlos.
In meinen Händen, in meinem Schooß
muss ich es halten, bis ich sterbe.
Denn was ich fortstelle,
hinein in die Welt,
fällt,
ist wie auf eine Welle
gestellt.

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Ich habe Hymnen, die ich schweige


hören

Ich habe Hymnen, die ich schweige.
Es giebt ein Aufgerichtetsein,
darin ich meine Sinne neige:
du siehst mich groß und ich bin klein.

Du kannst mich dunkel unterscheiden
von jenen Dingen, welche knien;
sie sind wie Herden und sie weiden,
ich bin der Hirt am Hang der Heiden,
vor welchem sie zu Abend ziehn.

Dann komm ich hinter ihnen her
und höre dumpf die dunklen Brücken,
und in dem Rauch von ihren Rücken
verbirgt sich meine Wiederkehr.

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch vom Mönchischen Leben


Donnerstag, 8. Dezember 2011

Vorgefühl


Vorgefühl

hören


Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.

Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem großen Sturm.

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Erste Rosen erwachen






hören
Erste Rosen erwachen,
und ihr Duften ist zag
wie ein leisleises Lachen;
flüchtig mit schwalbenflachen
Flügeln streift es den Tag;

und wohin du langst,

da ist alles noch Angst.

Jeder Schimmer ist scheu,

und kein Klang ist noch zahm,
und die Nacht ist zu neu,
und die Schönheit ist Scham.


Aus Rainer Maria Rilke: Frühe Gedichte

 

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Schlaflied


Schlaflied

hören

Einmal wenn ich dich verlier,

wirst du schlafen können, ohne
daß ich wie eine Lindenkrone
mich verflüstre über dir?

Ohne daß ich hier wache und

Worte, beinah wie Augenlider,
auf deine Brüste, auf deine Glieder
niederlege, auf deinen Mund.

Ohne daß ich dich verschließ

und dich allein mit Deinem lasse
wie einen Garten mit einer Masse
von Melissen und Stern-Anis.


Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil
 

Dienstag, 6. Dezember 2011

Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht



hören


Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
und sagt: Ich bin.
          Ein Gott, der seine Stärke eingesteht,
hat keinen Sinn.
         Da musst du wissen, dass dich Gott durchweht
seit Anbeginn,
         und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät,
dann schafft er drin.


Rainer Maria Rilke, 18.5.1898, Viareggio
 

Montag, 5. Dezember 2011

Einsamkeit


Einsamkeit

hören


Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder


Das Video zum Gedicht ansehen:


Sonntag, 4. Dezember 2011

Herbst


Herbst
  hören

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Aus: Das Buch der Bilder

Samstag, 3. Dezember 2011

Das sind die Gärten

Das sind die Gärten, an die ich glaube:
Wenn das Blühn in den Beeten bleicht,
und im Kies unterm löschenden Laube
Schweigen hinrinnt, durch Linden geseigt.

Auf dem Teich aus den glänzenden Ringen
schwimmt ein Schwan dann von Rand zu Rand.
Und er wird auf den schimmernden Schwingen
als erster Milde des Mondes bringen
an den nicht mehr deutlichen Strand. 


Rainer Maria Rilke, 19.11.1897, Berlin-Wilmersdorf

Freitag, 2. Dezember 2011

Die Liebende

Die Liebende
hören

Das ist mein Fenster. Eben
bin ich so sanft erwacht.
Ich dachte, ich würde schweben.
Bis wohin reicht mein Leben,
und wo beginnt die Nacht?

Ich könnte meinen, alles
wäre noch Ich ringsum;
durchsichtig wie eines Kristalles
Tiefe, verdunkelt, stumm.

Ich könnte auch noch die Sterne
fassen in mir, so groß
scheint mir mein Herz; so gerne
ließ es ihn wieder los

den ich vielleicht zu lieben,
vielleicht zu halten begann.
Fremd, wie niebeschrieben
sieht mich mein Schicksal an.

Was bin ich unter diese
Unendlichkeit gelegt,
duftend wie eine Wiese,
hin und her bewegt,

rufend zugleich und bange,
daß einer den Ruf vernimmt,
und zum Untergange
in einem Andern bestimmt.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Herbsttag

 Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 

Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris