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ich breite einsam beide Arme aus,
und keiner sagt mir, wo ich hingehöre.
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aus Rilke: "Mir ist, als ob ich alles Licht verlöre"

Samstag, 7. Dezember 2013

Ich bin so still, du Traute


Ich bin so still

hören


Ich bin so still, du Traute,
und immer schweigen wir.
Du bist eine schlanke Laute,
der Frühling spielt auf dir.

Drum bin ich so still, du Ziere,
weil oft mir Angst geschieht,
daß ich einen Laut verliere
aus deinem lieben Lied.


Aus Rainer Maria Rilke: Dir zur Feier

Die Einsamkeit ist wie ein Regen


Einsamkeit

hören


Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder


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Herbsttag - Herr: es ist Zeit.

 Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 

Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris

Ich habe Hymnen, die ich schweige


hören

Ich habe Hymnen, die ich schweige.
Es giebt ein Aufgerichtet sein,
darin ich meine Sinne neige:
du siehst mich groß und ich bin klein.

Du kannst mich dunkel unterscheiden
von jenen Dingen, welche knien;
sie sind wie Herden und sie weiden,
ich bin der Hirt am Hang der Heiden,
vor welchem sie zu Abend ziehn.

Dann komm ich hinter ihnen her
und höre dumpf die dunklen Brücken,
und in dem Rauch von ihren Rücken
verbirgt sich meine Wiederkehr.

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch vom Mönchischen Leben


Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit


Begegnung in der Kastanien-Allee

hören


Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit
kühl wie ein Seidenmantel umgegeben
den er noch nahm und ordnete: als eben
am andern transparenten Ende, weit,

aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben,
weiß eine einzelne Gestalt
aufleuchtete, um lange fern zu bleiben
und schließlich, von dem Lichterniedertreiben
bei jedem Schritte überwallt,

ein helles Wechseln auf sich herzutragen,
das scheu im Blond nach hinten lief.
Aber auf einmal war der Schatten tief,
und nahe Augen lagen aufgeschlagen

in einem neuen deutlichen Gesicht,
das wie in einem Bildnis verweilte
in dem Moment, da man sich wieder teilte:
erst war es immer, und dann war es nicht

Aus Rainer Maria Rilke: Der neuen Gedichte anderer Teil

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O wie ist alles fern


Klage

hören


O wie ist alles fern
und lange vergangen.
Ich glaube, der Stern,
von welchem ich Glanz empfange,
ist seit Jahrtausenden tot.
Ich glaube, im Boot,
das vorüberfuhr,
hörte ich etwas Banges sagen.
Im Hause hat eine Uhr
geschlagen...
In welchem Haus?...
Ich möchte aus meinem Herzen hinaus
unter den großen Himmel treten.
Ich möchte beten.
Und einer von allen Sternen
müsste wirklich noch sein.
Ich glaube, ich wüsste,
welcher allein
gedauert hat, -
welcher wie eine weiße Stadt
am Ende des Strahls in den Himmeln steht...

Aus Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder

Atmen, du unsichtbares Gesicht


I.Sonett

hören


Atmen, du unsichtbares Gesicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.


Aus Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil

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