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Wenn eng mit Zeit und Stundenschlagen
der Alltag ärmlich uns umspinnt,
geschieht mir oft ich muß dich fragen:
Glaubst du dass wir das selber sind?
Wir gehen gewiß in stillen Wiesen,
aus denen Zeit und Stunde wich,
und unsre Stirnen sind gleich Friesen
mit Knaben die auf Flöten bliesen,
so friedlich, still und feierlich
Wir wissen nicht vom Sinn der Tage.
und unsre kühlen Hände sind
zwei Zweigen ähnlich die sich zage
entgegenwachsen durch den Wind.
Im Alltag tasten unsre Träume
uns mühsam nach und sind in Mühn,
wenn wir schon schön wie junge Bäume,
dem Sommerlos entgegenblühn
Rainer Maria Rilke: Aus der Sammlung Dir zur Feier
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Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.
Dein großer Mantel lässt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange -
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoß.
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.
Rainer Maria Rilke: 26.9.1899, Berlin-Schmargendorf
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Unsere Träume sind Marmorhermen,
die wir in unsere Tempel stellen,
und sie mit unseren Kränzen erhellen,
und sie mit unseren Wünschen erwärmen.
Unsere Worte sind goldene Büsten,
die wir durch unsere Tage tragen;
die lebendigen Götter ragen
in der Kühle anderer Küsten:
Wir sind immer in einem Ermatten,
ob wir rüstig sind oder ruhn,
aber wir haben strahlende Schatten,
welche die ewigen Gesten tun.
Aus Rainer Maria Rilke: Dir zur Feier
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Schau, wie die Zypressen schwärzer werden
in den Wiesengründen, und auf wen
in den unbetretbaren Alleen
die Gestalten mit den Steingebärden
weiterwarten, die uns übersehn.
Solchen stillen Bildern will ich gleichen
und gelassen aus den Rosen reichen,
welche wiederkommen und vergehn;
immerzu wie einer von den Teichen
dunkle Spiegel immergrüner Eichen
in mir halten, und die großen Zeichen
ungezählter Nächte näher sehn.
Aus Rainer Maria Rilke: Mir zur Feier
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... Oft sehn sich unsre Seelen tagelang nicht.
Und meine, dürstend, deine zu entdecken,
will ihre Arme aus dem Alltag strecken,
schaut hinter deines Lachens Rosenhecken
und lugt und lauscht und findet ihren Klang nicht.
--
Aber ich ahne an Abendrainen
werden wir unsere Seelen uns zeigen.
Und aus der meinen und aus der deinen
werden Gestalten der Stille steigen,
die sich leise entgegenweinen ...
Aus Rainer Maria Rilke: Aus der Sammlung Dir zur Feier
Ein Frühlingswind
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Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß
es kommen, all das Drängende und Blinde,
vor dem wir glühen werden -: alles das.
(Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.)
O unser Schicksal kommt mit diesem Winde.
Von irgendwo bringt dieser neue Wind,
schwankend vom Tragen namenloser Dinge,
über das Meer her was wir sind.
.... Wären wirs doch. So wären wir zuhaus.
(Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.)
Aber mit diesem Wind geht immer wieder
das Schicksal riesig über uns hinaus.
Aus Rainer Maria Rilke: Gedichte 1906 bis 1926